09 Juni, 2011

Herr Münchhausen und die Liebe

Heute sprach ich mit Suse über die Liebe. Darüber, wie frei man früher, in der späten Jugend mit dem Begriff umgegangen ist, inflationär und das aus vollstem Herzen. "Love you", "lieb Dich", "hab Dich lieb", das hat man sich gesagt und sich dabei gefühlt wie Baron Münchhausen auf seiner Kanonenkugel: frei, mit ordentlich Bums im freien Fall, Wind in der Seele.

Heute fühle ich mich im besten Sinne anders. Man ist nicht mehr Anfang 20. Man ist Anfang 30. Die ersten Freundschaften sind zerbrochen, man kennt jetzt Menschen, die heiraten. Man ist zuständig für sein Leben, das Geld, das in die Kasse kommt. Man weiß, wieviel man für die Krankenkasse bezahlen muss, man weiß, wie es sich anfühlt, auf dem Amt fertig gemacht zu werden. Man verknöchert emotional auf Arten, die man sich Anfang 20 nicht hätte vorstellen können.

Ich las soeben einen Artikel über die Verkürzung der Schulzeit, einen sehr guten Artikel in der ZEIT. Henning Sußebach schreibt darüber, wie sich die Kinder von heute verändern, er sagt, die auf 8 Jahre gekürzte Schulzeit macht die Kinder zu Lernmaschinen. Das Land der Denker und Dichter verändert sich zum Land der Büffler und Schufter. Kinder, die Sonntags lernen, Kinder, die keine Zeit haben, um irgendetwas außerhalb der Schule wahrzunehmen. Er fragt sich, und das zurecht, ob diese Kinder irgendwann zu kritischen Menschen werden können.

So wie er wurde auch ich in den frühen 80ern von Lehrern zu Anti-Atomkraft-Demos geschickt. Heute weigert sich die Schulbehörde den Schülern und Lehrern dafür frei zu geben, für eine bessere SCHULreform zu protestieren. Zu seiner Zeit, so schreibt Sußebach, war Kindheit eine Zeit der Lebendigkeit, der kleinen Entdeckungen. Eine Zeit des ewigen Sommers, in der er sich vorstellte, er sei Boris Becker oder Kalle Rummenigge. Kinder heutzutage gehen immer häufiger zum Arzt, weil sie nicht schlafen können, Angst haben oder traurig sind. Sie machen sich Sorgen, wegen der Arbeiten oder den Hausaufgaben.

Ich habe mich gefragt, ob die Veränderung, die in den Kindern vor sich geht, eine Veränderung ist, die mich auch beschreibt. Die Antwort lautet ja. Ich nehme auch an, dass diese Veränderung etwas ist, dass heute viele Menschen in diesem Land beschreibt: woher kommt der nächste Job? Wieviele Tage kann ich mir freinehmen, um einen Urlaub zu machen? Wenn mein Produkt Anlaufschwierigkeiten hat, sollte ich auch am Wochenende arbeiten? Wie gehe ich mit den ständigen Jobzusagen und -absagen um? Wie damit, dass ich "zu teuer" sei?

Viel mehr als früher beschäftigt mich heute die Frage, ob ich es als Selbständige schaffen kann. Ich tanze auf so vielen Hochzeiten jobmäßig, dass ich mich noch nichtmal als irgendwas bezeichnen kann. Die Situation, obwohl momentan äußerst angenehm und eklektisch, droht sich ständig in einen Albtraum zu verwandeln. Und dieser Druck, der bei mir genauso wie bei den Kindern dafür sorgt, dass ich schlecht schlafe, versteift die ehemals so geölten Gelenke der Zuneigung. Nicht nur zu mir selbst, auch gegenüber anderen.

Ich fliege nicht mehr so hoch. Ich stürze auch nicht mehr so tief. Ich gehe mit meinen Worten, mit meinen "Ich liebe Dichs" sehr sorgfältig um. Ich gehe mit dem, was ich anderen erzähle, begrenzt um. Oft limitiere ich mich zu einem Nichts, einer Nullsagerin. Vielleicht ist dies das, was man spürt, wenn man erwachsen ist. Ich will es nicht hoffen.

Ich wünsche mir, weiter auf der Kugel zu sitzen und in den Wind zu brüllen. Frei von Erfahrung, von Rückschlägen, von zuviel oder zu wenig Liebe, einfach nur so. Wie ein Kind. Aber, verdammt nochmal, ein Kind aus den 80ern.
Weiterlesen >>>