20 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 4 - Carozzu nach Haut-Asco


"Ich weiß nicht, ob ich weitermache - ich bin völlig lädiert. Morgen mache ich noch. Und wenn ich feststelle, dass ich Superkräfte entwickle, mache ich sechs Tage. Wenn ich die nicht entwickle, dann fahr ich mit nem Bus oder per Anhalter von Haut-Asco entweder auf nen anderen Trail, wo ich mir nicht die Knochen breche oder wieder nach Bastia, nehm die Fähre nach Elba und lege diesen alten, untrainierten Körper an einen Strand."

Was ich dann auch machte, allerdings erst später
Wieder mal historische Worte aus dem Tagebuch der Mademoiselle Z. Als ich am dritten Trailtag aufstehe, kann ich kaum laufen. Diese vermaledeite Milchsäure, die irgendwie überall zu sein scheint, selbst in meinem Gehirn. Als wir um halb neun loslaufen, finde ich einen Wanderstock vor der Tür. Er ist präpariert, oben abgesägt und unten angespitzt. Ich bin entzückt.

Marieke & Mein Bester
Der Stock wird an diesem Tag mein bester Freund. Er ist leicht und stabil und glatt und schön anzufassen und stetig an meiner Seite. Besser als jeder Typ, scheint mir. Ich taufe ihn "Mein Bester" und lobe ihn konstant, unhörbar. Selten war ich einem Gegenstand so dankbar. Als wir loslaufen und meine Beine wieder anfangen, Klamauk machen zu wollen, stoppe ich sie. "Heute ist ein besserer Tag", sage ich, "ein Tag ohne Unsicherheit". Der Plan funktioniert erstaunlich gut. Die Granitplatten machen mir immer noch Angst, aber mit Mein Bester gehen sie viel besser.

Indiana Marieke
Die Brücke über den Spasimata-Bach erinnert an Kindheit und Action Filme aus den Achtzigern. Dann geht's ab in die wunderschöne Spasimata-Schlucht. Die Spasimata-Schlucht ist eins dieser Naturwunder, die sich der Fotografie entziehen. Deren Farbigkeit, Steilheit und Atemberaubenheit einfach nicht dem entsprechen, was man auf den Bildern sieht. In der Schlucht verdamme ich mich dafür, dass ich seit Jahren keine anständige kleine Kamera habe.


Die Farbigkeit der Steine auf diesem Weg ist wunderschön. Korsika ist überwältigend metallisch. Violette Felsen mit neongrünen Flecken wechseln sich ab mit blau und grün schimmerndem Gestein. Wenn die Sonne durchkommt, fängt die Landschaft an zu glitzern. Das Mädchenherz freut sich.

Auf dem Weg zur Spasimata-Schlucht
Spasimata, die Schöne im Morgenlicht
Psychedelischer Aufstieg aus der Spasimata-Schlucht

Wenn man Steinen Prächtigkeit zuschreiben könnte, stünde hier "Steinpracht"
Hoch also, wieder und immer wieder hoch, bis wir zum völlig unspektakulären Lac de la Muvrella kommen. Wenn man sich der Zivilisation entzieht, Wasser aus kristallklaren Bächen trinkt und eine gewisse Selbstverständlichkeit für das Pure dieses Lebens gewinnt, ist es immer ein mieser Rückschlag, den Dreck der Menschen zu sehen, wenn er wieder auftaucht. Bilbao auf dem Camino del Norte war so ein Rückschlag. Der Lac de la Muvrella ist nicht vergleichbar, aber er hat auf jeden Fall durch die Flut der sommerlichen GR-20 Besucher gelitten.

Ich mache kein Foto und steige den steilen Anstieg zur Bocca di a Muvrella hoch. Keuche mich hoch, besser gesagt. Oben gibt es eine Aussicht bis zum Meer und einen grinsenden Bruder, der zugibt, dass der Aufstieg ihn auch aus der Puste gebracht hat. Heute machen mich die Gipfel und der nahe Himmel glücklich. Man kann bis zum Meer sehen. Beste Laune der Natur, dass es Wanderwege gibt, die Berge und Meer gleichzeitig haben.

Mariekes heimlicher Angstgegner: die Granitplatten
Wir erklimmen die Bocca de Stagnu auf 2.010 Metern und sind fast enttäuscht, als wir kurz danach schon die Herberge von Haut-Asco im Tal sehen. Jetzt schon da oder was?

Da wohnt er wohl. #gott
Aber natürlich, wie kann es anders sein, unterschätzen wir den Abstieg, der 640 Höhenmeter runter geht. Und das höchst steile anderthalb Stunden. Ich werde wieder unsicher, auch mit Mein Bester. Nach ungefähr einer Stunde passiert es, ich rutsche in eine Felsspalte, mein Bein klemmt sich ein, verdreht sich. Durch die Leggings merke ich, wie der Stein meine Haut wegreißt. Ich schreie. Befreie mich wieder mit aller Kraft. Die Leggings wird warm am Bein, ich schaue nicht nach.

Langsam steigen Gustav und ich danach weiter ab, ich wieder zittrig und rutschig. Am Ende regnet es und ich habe zu wenig Augen für die riesigen Wurzeln der Pinien, die den Waldboden durchbrechen. Als wir in Haut-Asco ankommen, gibt es die Überraschung unseres Lebens: die hässlichste Herberge der Welt, aber warmes Wasser zum Duschen! Haut-Asco ist eine Skistation und es gibt außer der Herberge auch noch ein Hotel. Die Wahl, Nudelzeugs im Dunkeln mit Kopflampe (es gibt keinen Strom in der Herberge) im Kalten (es gab auch kein Holz) zu essen oder zum Hotel rüberzugehen, fällt sehr leicht.

"Asco" ist das spanische Wort für Ekel und verleiht dem Refuge de Haut-Asco genau den Unruhm, den es verdient. Speziell, wenn man bedenkt, dass es dort Bettwanzen oder Flöhe gibt und ich am nächsten Morgen mit 15 Stichen im Gesicht, Hals und Ohrläppchen aufwache. Wortwörtlich: Haut-Ekel.

Vermackte Beene in Haut-Ekel


Fazit Tag 4:
1) 15 blaue Flecken und mehrere Löcher im Bein, ich sehe aus, als wäre ich vermöbelt worden. Wurde ich auch. Von der Natur.
2) Gipfelglück ist ein sehr schönes Glück. So schön wie Wellenglück oder Liebesglück.
3) Die Mischung aus körperlicher Höchstpräsenz, der Natur und den Glücken sorgt dafür dass ich, das vermöbelte Wesen, ernsthaft darüber nachdenke, weiterzumachen. Ts.



Mehr von Gustavs und meinen Abenteuern an Tag 5 auf dem GR-20 könnt ihr hier lesen!


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