19 Oktober, 2013

GR-20 - Teil 3 - Ortu di u Piobbu nach Carozzu

"Gut, dass wir noch leben. Meine Schulter tut weh." Mit diesen historischen Worten endet mein Tagebucheintrag vom ersten Wandertag auf dem GR-20. Als Gustav und ich am nächsten Tag aufwachen, ist es noch dunkel. Unsere Hüttenmitbewohner huschen lautlos durch den Raum, ihre Kopflampen flackern. Das Fenster ist beschlagen, draußen wird es langsam hell. Ich nehme die Ohrstöpsel raus und schäle mich aus dem Schlafsack.

Refuge de Ortu di u Piobbu
Unser erstes Müslifrühstück ist köstlich und ich bin dankbar für den Kaffee, den wir mitgenommen haben. Um acht Uhr gehen wir los, in Richtung der Quelle in der Nähe der Hütte, wo wir uns die Zähne putzen. Abwesend schaue ich mir im glasklaren Wasser die Nudelreste vom Abwasch der anderen an und fühle mich schuldig, als ich Zahnpasta auf einen großen Felsen unterhalb der Quelle spucke. Als hätte ich eine Umweltsünde begangen. An der Quelle begegnet uns das französische Pärchen, sie kommen aus Gehrichtung und wir fragen, ob sie etwas vergessen haben. Nein, sie haben sich entschieden, bei der Hütte zu bleiben. Die Frau zuckt verlegen die Schultern. Sie hat Angst, weiterzulaufen, sagt sie. Sie ist nicht fit genug. Wir gehen los, ich denke darüber nach, dass ich fand, dass sie schon fit aussah. Fitter als ich.

Wir fangen bei Ortu di u Piobbu auf 1.250 Metern an und kraxeln aufwärts. Ich habe Angst, über die großen Granitplatten aufrecht zu gehen. Gustav nicht, er läuft leichtfüßig und schnell über die Riesenfelsen.

GGG - Gipfelgemse Gus
Es ist erstaunlich, wieviel Kopfsache dieser Weg ist. Dieser Weg, der kein Weg ist, sondern das Durchqueren einer Bergkette, mehr oder weniger linear. Nach fünf Stunden kommen wir zu einem Stück Weg, das man aufrecht gehend gehen kann, ohne weitere Hindernisse. Wir lachen. Es ist circa 20 Meter lang, dann geht es weiter mit der Kletterei.

Der "Weg" ist ein reines Entscheidungen treffen. Bei jedem Schritt frage ich mich, wohin ich den Fuß setze. Bei jeder Granitplatte, ob ich ausrutsche. Bei jeder Kletterei, wohin mit den Fingern. Ich gebe meinem Körper unendlich viele Befehle. Fuß aufstellen, Gewicht verlagern (die 15 Kilo auf dem Rücken helfen nicht wirklich), hoch mit dem gesamten Gewicht auf den Felsvorsprung, KRAFT, ihr dummen Oberschenkelmuskeln! Abstützen auf dem dummen Bein, das sagt, sorry, hab keine Kraft, und hoch da. Und das war genau ein Schritt.
Bocca Piccaia, 1.950 Meter 
An diesem Tag mache ich sehr viele Fehler. Ich habe kein Gleichgewicht. Eine ganz fatale Sache. Ich habe keine Zuversicht in meine Entscheidungen. Ich stütze mich falsch ab, ich rutsche aus, ich fasse mit den bloßen Händen in scharfe Vorsprünge. Ich laufe auf allen vieren Berge hoch. Beim ersten Gipfel auf 2.020 Metern Höhe fühle ich keinen Triumph. Nur Angst, dass ich den ganzen Mist jetzt auch wieder runter muss.

Cirque de Bonifatu

Eine Angst, die auch völlig gerechtfertigt ist, denn ich muss den ganzen Mist ja wieder runter. Obwohl ich eigentlich schwindelfrei bin und auch keine Höhenangst habe, ist die Mischung aus körperlicher Schwäche und den sehr präsenten Abgründen, die ungesichert neben mir liegen, lähmend. Und dann fange ich an, wirkliche Fehler zu machen. Mit Gustavs Hilfe steige ich durch eine enge, drei Meter hohe Felsspalte, setze einen Fuß falsch und rutsche ab. Mein gesamtes Gewicht hängt an meinen Händen, ich versuche mich hochzuziehen. Mit aller Kraft winkle ich mein Bein wieder an, setze den Fuß richtig. Gustav blafft mich an, ich solle ordentlich greifen. Ich zwänge mich hoch, blaffe ihn auch an und sage ihm, er soll mich allein gehen lassen. Gustav läuft vor, ich fange an, zu weinen.
Bocca di L'Innominata, 1.912 Meter
Teil unseres Familiencharmes ist es, perfektionistisch zu sein. Und ungeduldig zu werden, wenn was nicht so gut klappt, wie wir uns das vorstellen. "Ungeduldig" ist hier auf jeden Fall als Euphemismus zu verstehen. Ich bin das auch. Nur bin ich ja jetzt diejenige, bei der das hier gerade "nicht so gut" klappt. Ich wische mir die Tränen ab, schniefe sportlich in die Berglandschaft und schließe auf.

Leider wird danach nichts besser. Hinter der Bocca di L'Innominata stütze ich mich auf einem Felsen ab, der leider nicht fix ist. Er dreht sich und fällt auf mein Handgelenk. Sofort bildet sich ein Riesenei und ich hoffe, dass nichts gebrochen ist. Adrenalin schießt durch meinen Körper, ich fange schon wieder an zu heulen. Gustav hilft mir auf, packt die Rucksäcke um (jetzt habe ich lächerliche 6 Kilo oder so) und wir schlittern über die riesigen Geröllhalden in Richtung Refuge de Carozzu. Mein ganzer  Körper zittert und ich rutsche noch mehrfach im lockeren Gestein aus.

Der Arsch von Felsen, der auf meinen Arm fiel. Es ist der in der Mitte.
 Als wir nach einer weiteren Stunde das Refuge de Carozzu erreichen, umarmt mich mein Bruder. "Hätte nicht gedacht, dass du das schaffst", sagt er. Ich hab schon wieder Pipi in den Augen und wir gehen in die wunderschöne Hütte.

Aussicht vom Carozzu-Balkon
Refuge de Carozzu
Refuge de Carozzu
Marieke versus Arsch von Stein: nix gebrochen

Fazit Tag 3:
1) Die Natur ist schöner als die Zivilisation. Älter, faltiger, mächtiger, wirklicher. Und viel schöner. 
2) Stärke ist nur bedingt physisch.
3) Ein Arm bricht nicht so schnell.
4) Man sollte in Notfallsituationen immer einen Bruder dabei haben. 

Tag 4 auf dem GR-20! Hier weiterlesen!

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